Eigene Ausbildung vorrangig gegenüber Kindesunterhaltszahlung?

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Dienstag, 07.03.2023, geschrieben von iurFRIEND-Redaktion

Bevor jemand Unterhalt für sein Kind zahlen muss, ist ihm eine berufliche Erstausbildung zu gewähren. Diese steigert seine Erwerbschancen und damit die Gewährleistung von Unterhaltszahlungen. Eine Ausnahme von dieser Regelung gilt, wenn der Unterhaltspflichtige seit Jahren als ungelernte Kraft arbeitet und im Hinblick auf seine geringe Ausbildungsvergütung der Verbesserung seiner Ausbildung Vorrang vor weiteren Unterhaltszahlungen einrichten will.

Erst Ausbildung oder nur "Erstausbildung"?

Die Ausbildung zu einem Beruf ist Bestandteil des eigenen Lebensbedarfs des Unterhaltspflichtigen (BGH, Urteil vom 15. 12. 1993, XIII ZR 172(92). Außerdem erwirbt er erst mit der Berufsausbildung die Voraussetzungen, den Kindesunterhalt zuverlässig und dauerhaft bezahlen zu können. Insoweit liegt die Berufsausbildung auch im Interesse des Kindes.

 

Natürlich könnte man genauso gut behaupten, dass der Unterhaltspflichtige nicht unbedingt auf eine Berufsausbildung angewiesen sei. Er könnte den Kindesunterhalt auch leisten, indem er ungelernte Tätigkeiten ausübt. Diese Einschätzung vernachlässigt, dass der Unterhaltspflichtige auf diese Weise nicht ausreichend und dauerhaft finanzielle Mittel für die Zahlung des Kindesunterhalts erwirtschaften könnte. Insoweit akzeptiert die Rechtsprechung, dass die Berufsausbildung, die den Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen sicherstellt, Vorrang vor der Kindesunterhaltszahlung hat.

 

Diese Einschätzung betrifft aber nur die Erstausbildung zu einem Beruf. Wer eine zusätzliche Ausbildung absolviert und sich dann darauf zurückzieht, dass er in dem zuerst erlernten Beruf kein Geld mehr verdient und nunmehr nur noch eine Ausbildungsvergütung bezieht, kann damit die Zahlung des Kindesunterhalts nicht verweigern. In diesem Fall wird sich der Unterhaltspflichtige aufgrund seiner „gesteigerten Erwerbsobliegenheit“ theoretisch erzielbare, „fiktive Einkünfte“ anrechnen lassen müssen.

Was ist ein fiktives Arbeitseinkommen?

Arbeitet ein unterhaltspflichtiger Elternteil nicht und verdient kein Geld oder verdient er weniger Geld als er bei einem zumutbaren Einsatz seiner Arbeitskraft verdienen könnte, muss er sich ein theoretisch erzielbares, ein sogenanntes fiktives Arbeitseinkommen anrechnen lassen.

 

Ein ungelernter Unterhaltspflichtiger muss sich also den Vorwurf gefallen lassen, dass er mit dem entsprechenden Willen und Arbeitseinsatz eine reale Beschäftigungschance habe und durchaus Geld verdienen könne. Selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gebe es keinen Erfahrungssatz, nach dem ungelernte Kräfte nicht vermittelbar und teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien.

 

Unter Einsatz aller zumutbaren und möglichen Mittel müssen sich Unterhaltspflichtige nachhaltig darum bemühen, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden. Dafür genüge die bloße Meldung bei der Agentur für Arbeit nicht. Insoweit ist es gerechtfertigt, dem Unterhaltspflichtigen theoretisch erzielbare, fiktive Einkünfte zuzurechnen und auf der Grundlage dieser fiktiven Einkünfte die Unterhaltszahlungen für ein minderjähriges Kind zu berechnen (so auch OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.2015, Az. 2 UF 213/15).

Wann die Kindesunterhaltszahlung gegenüber der Erstausbildung vorrangig ist

Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg (Beschluss vom 9.2.2022, Az. 7 UF 196/21) verdeutlicht anschaulich die Thematik. Im Fall ging es um einen 45 Jahre alten Kindesvater, der bis dahin keine Berufsausbildung absolviert hatte und seit Jahren als ungelernte Kraft bei ca. 40 Arbeitsstunden im Monat ca. 1.300 EUR monatlich netto verdiente. Seine beiden minderjährigen Kinder verklagten den Vater auf Zahlung des Mindestkindesunterhalts nach Maßgabe der Düsseldorfer Tabelle. Der Vater verweigerte den Unterhalt. Er berief sich darauf, dass

  • er gesundheitlich nicht mehr arbeiten könne,
  • es ihm wegen seiner fehlenden Berufsausbildung nicht möglich sei, mehr als 1.300 EUR monatlich netto zu verdienen und
  • er wegen der im Laufe des Unterhaltsrechtsstreits begonnenen Berufsausbildung nur noch über eine bescheidene Ausbildungsvergütung verfüge, die nicht ausreiche, den Kindesunterhalt zu bezahlen.

Das Gericht stellte klar, dass eine Erstausbildung nicht immer Vorrang habe. Es komme sehr wohl auf die Umstände im Einzelfall an. Dazu stelle sich gerade in diesem Fall die Frage, warum der Unterhaltspflichtige ausgerechnet im Verlauf des Unterhaltsrechtsstreits im Alter von 45 Jahren den Entschluss gefasst habe, nunmehr eine Erstausbildung zu beginnen. Schließlich habe er bislang seit fast 30 Jahren nur ungelernte Tätigkeiten ausgeübt. Das Gericht bewertete daher die Aufnahme der Erstausbildung als nicht angemessen. Hinzu kam, dass der Unterhaltspflichtige nicht dargelegt habe, dass eine Ausbildung seine Einkommenschancen auf dem Arbeitsmarkt künftig nachhaltig verbessern würden. Ihm sei daher zumutbar, die Aufnahme der Berufsausbildung zumindest bis zur Volljährigkeit seiner minderjährigen Kinder aufzuschieben. Insoweit müsse der Kindesunterhalt ausnahmsweise Vorrang vor der Berufsausbildung haben.

Ähnliche Fälle aus der Praxis

  • In einem ähnlichen Fall hatte der Bundesgerichtshof im Fall einer 30-jährigen Taxifahrerin die Aufnahme eine Erstausbildung zur Einzelhandelskauffrau noch als angemessen zugestanden (BGH, Urteil vom 4.5.2011, Az. XII ZR 70/09). Auch dieser Fall veranschaulicht, dass die Umstände im Einzelfall auf eine Abwägung hinauslaufen, bei der zu klären ist, ob die Zahlung des Kindesunterhalts oder die Berufsausbildung Vorrang haben.
  • Die Fehleinschätzung des Ausbildungsziels, beispielsweise bei einem abgebrochenen Studium, kann den Vorrang der Berufsausbildung gegenüber der Zahlung des Kindesunterhalts rechtfertigen (Kammergericht Berlin FamRZ 2011, 1798).
  • Lässt sich der Unterhaltspflichtige umschulen, muss das Kind wegen des Vorrangs der Berufsausbildung und der damit verbundenen besseren Verdienstmöglichkeiten die Reduzierung seines Unterhalts hinnehmen (OLG Karlsruhe FamRZ 1989, 627). Dieses Zugeständnis lässt sich wiederum nicht mehr rechtfertigen, wenn der Unterhaltspflichtige nach einer längeren Beschäftigung in ungelernter Tätigkeit nunmehr im Hinblick auf die Zahlung des Kindesunterhalts eine Umschulung anstrebt (OLG Jena NJW-RR 2004, 76).

Alles in allem

Die Absicht des Unterhaltspflichtigen, eine Berufsausbildung zu absolvieren und die Verantwortung des Unterhaltspflichtigen als Elternteil, für den Unterhalt des eigenen leiblichen Kindes sorgen zu müssen, stellt eine Gratwanderung dar. In Zweifelsfällen müssen unterhaltspflichtige Elternteile immer damit rechnen, dass das Interesse des Kindes an seinem Lebensunterhalt einen gewissen Vorrang genießt und die Befindlichkeiten des Elternteils dahinter zurücktreten.

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